Dienstag, 21. Juli 2009

Meditation als Wandlungsprozess

Bei der Sitzmeditation, vor allem bei Retreats, begann ich gewöhnlich mit der Erwartung zu sitzen, dass mir die Meditation besondere Gefühle verschaffen sollte. Oft wollte ich einfach nur frei von Ängstlichkeit sein. Dementsprechend hatte ich jedoch selten eine klare Vorstellung davon, worum es beim Sitzen eigentlich geht. Selbst jetzt, wo ich keine besonderen Gefühle mehr dabei anstrebe, halte ich es immer noch für hilfreich, mir von Zeit zu Zeit genau vor Augen zu führen, was ich beim Sitzen eigentlich tue.
Insbesondere finde ich es nützlich, mir nochmals die grundsätzlichen Fragen ins Gedächtnis zu rufen: Worum geht es beim Sitzen wirklich? Warum ist es so wichtig zu sitzen? Warum betonen wir, dass es notwendig ist, täglich zu sitzen, und dass es ebenso notwendig ist, an längeren Meditationsretreats teilzunehmen? Offensichtlich sitzen wir nicht einfach nur, um uns wohlzufühlen. Besonders bei Retreats fühlt sich das Sitzen gar nicht gut an. Wir sind müde, haben Schmerzen, oder langweilen uns. Wir erinnern uns oft nicht einmal daran, warum wir da sind. Manchmal wollen wir nichts weiter als aufstehen und gehen. Warum sitzen wir also weiter? Was tun wir dabei? Ist uns klar, was beim Sitzen eigentlich geschieht und was es zu einem solch wertvollen Prozess macht? Das Sitzen besteht aus mehreren ineinander greifenden Komponenten. Alle diese Komponenten sind wesentliche Aspekte der Meditation als Wandlungsprozess. Eine klare Vorstellung von dem Prozess zu haben, kann uns helfen, die Untiefen und Dürrezeiten zu überstehen, die unausweichlich auftreten werden. Es wird uns auch helfen, unser Üben auch wieder auszurichten, wenn wir vom Wege abkommen. Die Komponenten haben untereinander weder eine bestimmte Rangordnung, noch handelt es sich um Rezepte. In einem bestimmten Augenblick kann eine bestimmte Komponente auf unsere jeweilige Situation mehr zutreffen, als eine andere.
Die erste Komponente ist die Beharrlichkeit. Beharrlichkeit macht es uns möglich, durch das Unbehagen hindurchzusitzen und selbst dann zu sitzen, wenn uns nicht danach ist, wenn wir uns langweilen, oder müde sind. Sie ermöglicht uns durch alle Täler, Untiefen und Schwierigkeiten hindurch dem Übungsweg treu zu bleiben. Beharrlichkeit ist nichts Geringes, denn manchmal kann unser Widerstand sehr stark sein. Ist es nicht eine Tatsache, dass wir oft nicht länger als ein paar Sekunden in der bewussten Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks verharren wollen? Das Entwickeln von Beharrlichkeit in Laufe der Jahre ist also vergleichbar damit, einen Muskel zu trainieren. Wir entwickeln die Stärke und Fähigkeit, ohne die das Üben sich wirklich entfalten könnte. Letztlich lernen wir, dass uns das Üben nicht im gewöhnlichen Sinne gefallen muss, um damit fortzufahren.
Die zweite Komponente ist das Zur-Ruhe-Kommen. Stellen Sie sich ein Glas Wasser vor, in dem sich ein Bodensatz befindet. Wenn Sie das Wasser aufrühren, wird es trübe. Dieses trübe Wasser entspricht unserem Ersatzleben, einem Wirbel der Ängstlichkeit und Verwirrung. Wir laufen umher und versuchen, nicht klein beizugeben, aber wir haben wenig Klarheit darüber, was wir tun. Das Glas zu nehmen und hinzustellen ist vergleichbar damit, uns zum Meditieren hin zu setzen. Was geschieht? Die Trübung setzt sich allmählich unten im Glas ab, und das Wasser wird klar und still. Beim Sitzen lernen wir, wie es sich anfühlt, zur Ruhe zu kommen. Dieses Zur-Ruhe-Kommen vollzieht sich über die Jahre sowohl auf der psychologischen, als auch auf der physischen Ebene. Es hat etwas Stärkendes, sich nicht zu bewegen, wenn ein Bewegungsimpuls aufkommt. Stattdessen bleiben wir einfach still sitzen, geben der Erregung keine Nahrung und rühren das Wasser nicht mehr auf. In diesem Rahmen könnten wir eine Konzentrationstechnik anwenden, indem wir unser Augenmerk beispielsweise auf unseren Atem richten, um uns zu helfen, zur Ruhe zu kommen. Zweifellos werden sich diese Ruhe und Klarheit nicht immer einstellen. Manchmal steigt beim Sitzen sogar noch mehr Schlamm aus unserer unterirdischen Innenwelt an die Oberfläche. Doch mit der Zeit begünstigt das Sitzen eine Haltung von Ruhe und Gleichmut inmitten des schlammigen Aufruhrs unseres Lebens.
Diese Haltung drückt der genannte Satz aus, welcher häufig in Zen-Tempeln rezitiert wird:
Mögen wir sein wie der Lotus, der im Schlamm zu Hause ist.
Die dritte Komponente ist das klare Sehen. Damit ist der Prozess gemeint, alles zu beobachten, was wir tun – wie wir denken und reagieren, worin unsere Strategien bestehen, wie sie aus unseren zentralen Glaubenssätzen erwachsen – und wie sich das alles zu einem defensiven und scheinbar substanziellen >Ersatzleben< zusammenfügt.
Klares Sehen ist nicht damit identisch, unsere Psyche zu analysieren. Wir konzentrieren uns nicht auf die Vergangenheit, oder versuchen nicht die Gründe für unser Denken, oder Handeln zu ermitteln. Das ist ein wichtiger Punkt. Wir versuchen uns einfach so zu beobachten, wie wir sind. Wenn wir beginnen unsere Überzeugungen und Strategien zu durchschauen, urteilen wir zwangsläufig über uns und erleben uns als fehlerhaft. Ein Bestandteil der Übung des klaren Sehens ist jedoch, die urteilende Tendenz unseres Geistes zu registrieren und zugleich zu beobachten, wie oft uns nicht bewusst ist, dass wir unsere Urteile als wahr akzeptieren.
Unsere grundlegenden Glaubenssätze klar zu sehen untergräbt allmählich unsere tief sitzende Konditionierung. Sie verschwindet nicht, aber sie beherrscht nicht länger unser Leben. Klares Sehen ist, als würden wir die getönten Gläser von unseren Augen nehmen. Die Wirklichkeit tritt schärfer und deutlicher hervor. Wir müssen uns nicht abmühen, um unser Verhalten zu ändern; das klare Sehen erweitert unsere Perspektive um neue Verhaltensmöglichkeiten. Die Veränderung folgt daraus als natürliche Konsequenz.
In diesem Zusammenhang spielt die Übung des Gedankenbenennens eine wichtige Rolle. Wenn wir unsere Gedanken nicht benennen, sobald wir sie registrieren, werden wir mit hoher Wahrscheinlichkeit fortfahren, sie für wahr zu halten. Das Benennen der Gedanken beinhaltet, dass wir jeden Gedanken, der uns durch den Kopf geht, stumm für uns wiederholen: >Ich habe die Vorstellung, dass das Leben nicht gerecht ist<, oder: >Ich habe die Vorstellung, dass nichts je klappen wird<. Wir benennen die Gedanken beinahe so, als säße uns ein Papagei auf der Schulter. Auf diese Weise brechen wir unsere Identifikation mit ihnen und beseitigen unsere Investition in sie. Überdies sehen wir sehr präzise, was wir eigentlich glauben. Den jeweiligen Gedanken zu benennen erlaubt uns allmählich, unsere Gedanken als Gedanken zu betrachten. Wir benennen nicht jeden Gedanken; sonst würde unsere Meditation zu kopflastig werden. Aber sobald wir eine emotionale Spannung verspüren, benutzen wir diese als Signal dafür, dass irgendein Glaubenssatz am Werke ist, den wir nicht klar und deutlich sehen und uns nicht länger mit ihnen als dem zu identifizieren, wofür wir uns halten, können wir aus dem engen mentalen Tunnel unseres Ersatzlebens heraustreten. Auf diese Weise wird das menschliche Grundproblem – die Erfindung und Fortsetzung eines >Ich<, das auf Angst und einer Schutzhaltung beruht – geklärt.
Oft hatte ich Befürchtungen. Das Benennen meiner Vorstellungen erlaubte mir zu sehen, dass ich aus zwei verschiedenen Bildern heraus lebte. Das erste Bild war der zentrale negative Glaubenssatz: „Ich kann das nicht!“. Das zweite Bild war eine Strategie, um mit diesem zentralen Glaubenssatz fertig zu werden:“Ich muss klug und organisiert sein!“. Diese herausfordernden Situationen machten sehr deutlich, dass ich mein ganzes Leben lang zwischen diesen beiden Bildern hin und her gependelt war, und dasjenige, welches gerade dominant war, für die einzige Wahrheit hielt. Beide Bilder stammten natürlich aus dem selben ungeheilten Schmerz – unseren tief sitzenden Versagensängsten.
Das Durchschauen dieser Glaubenssätze half mir zu begreifen, dass ich nicht länger im üblichen Sinne gegen meine Ängstlichkeit ankämpfen musste, was immer beinhaltet, sie zu ändern, oder auf irgendeine Weise los zu werden. Indem ich sie klar sah, wurden mir meine konditionierten Überzeugungen zunehmend deutlich und vertraut. Dadurch, dass ich sie sah und immer wieder benannte, konnte allmählich eine Unbeschwertheit an die Stelle der gewohnten Selbstbeurteilung treten. Und nach der Abschwächung der Glaubenssätze und Urteile blieb einfach nur die körperliche Erfahrung der Ängstlichkeit selbst übrig.
Das führt zur vierten Komponente der Sitzmeditation – dem bewussten Wahrnehmen unseres emotionalen Unfriedens. Obwohl dies einer der schwierigsten Aspekte des Übungswegs ist, ist er gleichzeitig der Weg zu beschleunigter Wandlung, auf dem die Energie unserer Emotionen durch ihre bewusste Wahrnehmung verwandelt wird. Als ich beispielsweise Angst hatte meine ersten Schüler zu unterrichten, und meine konditionierten Überzeugungen deutlich sah, musste ich nichts weiter tun, als mich der Angst zu öffnen, in ihr zu verweilen und sie zuzulassen. Es war nicht notwendig den Unfrieden zu beurteilen, oder ihn weg zu schieben; ich brauchte lediglich bewusst wahr zu nehmen, worin er bestand. Wir gestatten uns das nur selten. Meistens geben wir dem emotionalen Unfrieden Nahrung, indem wir unseren Gedanken Glauben schenken und daraus eine ganze Geschichte konstruieren, die wir dann immer wieder aufwärmen. Wenn wir erst einmal gelernt haben die Gedanken zu benennen und das mentale Geschehen zu klären, können wir uns stattdessen auf die physische Beschaffenheit unserer Wahrnehmung konzentrieren.
Wenn Emotionen besonders intensiv sind, wie etwa bei Verletzungen, Trauer, oder überwältigenden Schmerzen, ist es manchmal überaus schwierig zu üben, weil die Gefühle der Halt- und Hilflosigkeit so unangenehm sind. Aber genau das ist auch der Punkt, an dem wir die Möglichkeit haben, zum Kern des Übens vorzustoßen: wir können allmählich die Panzer und Wälle durchbrechen, die wir alle errichtet haben, um uns sicherer zu fühlen. Durch das Errichten dieser Wälle –insbesondere durch das Festhalten an unseren Selbstbildern, Lebenslügen, oder schützenden Identitäten – haben wir uns von unserem Herzen abgeschnitten. Und wenn ich vom Herzen spreche, meine ich nicht den Muskel, oder irgendeine vage pseudospirituelle Vorstellung. Ich spreche über das Herz, welches das innerste Wesen unseres Daseins bildet. In einigen Traditionen wird das Herz die Leere genannt, in anderen nennt man es Gott. Aber es spielt keine Rolle welche Begriffe wir verwenden – dieses Herz ist das Herz, das nur Verbundenheit und Liebe kennt.
Bei der Arbeit mit intensiven Emotionen haben wir die Chance, unseren schützenden Kokon zu durchbrechen und dadurch in die große Weite des Herzens ein zu treten. Doch da es ungemein schwierig ist, diese Emotionen auszuhalten, vollzieht sich dieser Prozess am besten in der Offenheit und Stille der Meditation, ein Prozess, der immer das Bewusstsein der physischen Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks beinhaltet.
Ein besonders wertvolles Werkzeug ist die Frage, oder das Koan: >Was ist das?<. Diese Frage wird im Zen ein Koan genannt, weil man sie nicht mit dem Kopf beantworten kann. Das Üben dieser Frage holt uns aus der Analyse und dem Denken heraus und wirft uns zurück auf das unmittelbare Empfinden, das Was unserer Erfahrung. Wie bei allen Koans kann die Antwort auf die Frage niemals in Form einer begrifflichen Vorstellung gegeben werden. Sie liegt nicht darin, worum es bei der Emotion geht, sondern was sie ist. Tatsächlich ist unsere unmittelbare Erfahrung selbst die einzige Antwort. Die Frage:>Was ist das?<, erinnert uns daran, unsere Aufmerksamkeit wie einen Laserstrahl auf den Ort zu richten, den wir selten betreten wollen – das Unbehagen unserer unmittelbaren Erfahrung. Unser Augenmerk auf die physische Wirklichkeit des Augenblicks zu lenken bedeutet unter anderem, uns auf die konkreten Empfindungen im Körper zu konzentrieren. Herrscht da Spannung? Wo sitzt sie? Wie fühlt sie sich an? Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf diesen unerwünschten Ort richten und bei ihm bleiben, verliert unser emotionaler Unfrieden an Substanz.
An diesem Punkt ist es auch wichtig mit Güte an unser Üben zu gehen. Das heißt, unsere hartherzigen Urteile über uns selbst aufzugeben. Wenn wir in dem Irrglauben meditieren, die Meditation sollte uns gute Gefühle verschaffen, werden wir zweifellos in eine unfreundliche Selbstbeurteilung verfallen, da Schwierigkeiten vorprogrammiert sind. Aber wenn wir unserem Erleben mit der Neugier des Was-ist-das-Geistes begegnen, rufen wir die wesentliche Zutat der Bereitwilligkeit hervor. Ist es nicht die Bereitwilligkeit, uns auf all das einzulassen, was auftaucht, die in unser Üben das Element der Güte bringt? Mit der tief empfundenen Bereitwilligkeit des Gewahrseins beginnen wir in einem Gefühl der großen Weite und Leichtigkeit zu ruhen. Wenn wir wirklich auf diese Weise bewusst wahrnehmen, ist es, als würden wir ein Paar zu enge Schuhe ausziehen. Das Gefühl der Beschränkung und Begrenzung löst sich auf. Auf diese Weise werden wir durch die Übung, den emotionalen Unfrieden bewusst wahrzunehmen, verwandelt.
Der letzte Aspekt besteht darin, unsere Aufmerksamkeit auf genau diesen Augenblick zu richten. Wir haben immer die Wahl, entweder ins Denken abzuschweifen, oder einfach bei dem zu sein, was der Augenblick bringt. Dieser Punkt der Entscheidung ist die Grundlage des Sitzens, an dem wir registrieren, worin unsere jeweiligen Muster der Unaufmerksamkeit gegenüber dem gegenwärtigen Augenblick bestehen. Schweifen wir gewohnheitsmäßig ins Pläneschmieden, Fantasieren, oder in die Selbstbeurteilung ab? Neigen wir dazu, uns damit zu beschäftigen die Vergangenheit durchzukauen, oder uns die Zukunft vorzustellen? Indem wir unsere Muster zur Kenntnis nehmen und in die Gegenwart zurückkehren, treffen wir Augenblick für Augenblick die Wahl, einfach hier zu sein. Auf diese Weise entwickeln wir eine Bewusstheit, die es erlaubt, dass Gedanken und Emotionen durch uns hindurch fließen, ohne, dass wir uns in ihnen verhaken.
Eine Technik, die viele Menschen als hilfreich empfinden, um diesen weiten und größeren Raum des Bewusstseins zu entwickeln, ist die so genannte Übung des dualen Bewusstseins. Dabei richten wir die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf den Atemvorgang und die Wahrnehmung der Geräusche. Das geht über eine reine Konzentrationsübung hinaus, weil wir uns nicht ausschließlich auf diese beiden Komponenten beschränken. Etwa ein Drittel der Aufmerksamkeit behalten wir dem Atem und den Geräuschen vor. Die übrige Aufmerksamkeit bleibt für andere Empfindungen, oder Sinneswahrnehmungen offen, die auftauchen.
Probieren Sie es jetzt aus: richten Sie ihre Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Atems. Spüren Sie die Kühle, wenn der Atem in Ihre Nasenlöcher eintritt und das feine Gefühl in der Nase, wenn Sie ausatmen. Nehmen Sie wahr, wie sich Brust und Schultern anfühlen, wenn sie sich beim Ein- und Ausatmen heben und senken. Nehmen Sie das Gefühl der Ausdehnung und Zusammenziehens im Bauch wahr, während der Atem ein- und austritt. Jetzt nehmen Sie all diese Empfindungen gleichzeitig wahr – beim Einatmen das kühle Gefühl in den Nasenlöchern, des Hebens des Oberkörpers und das Zusammenziehen des Bauches. Verharren Sie einige Atemzüge lang bei diesen physischen Empfindungen. Dann dehnen Sie Ihr Bewusstsein aus, um die bewusste Wahrnehmung von Geräuschen hinzuzunehmen. Beziehen Sie nicht nur die verschiedenen Umgebungsgeräusche mit ein, sondern auch die Geräusche zwischen den Geräuschen, die Geräusche der Stille. Während Sie bei dieser doppelten Wahrnehmung von Atem und Geräuschen verweilen, dehnen Sie Ihr Bewusstsein weiter aus, sodass die Atem- und Geräuschwahrnehmung nur etwa ein Drittel Ihrer Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Lassen Sie andere Empfindungen und Sinneswahrnehmungen in Ihr Bewusstsein ein und registrieren Sie sie im größeren Raum des Atems und Hörens.
Da sich ein Aspekt der Übung (der Atem) auf das >Innere< und der andere (die Geräusche) auf das >Äußere< bezieht, holt uns diese Übung aus unserer gewöhnlich kurzsichtigen Konzentration auf das >Ich< mit all den damit einhergehenden Urteilen und Meinungen heraus. Hier können wir den Gleichmut erleben, einfach zu sein. Gleichmut ist einfach die Bereitwilligkeit, sich auf das einzulassen, was unser Leben ist, ohne darüber zu urteilen und das Bedürfnis zu haben, dagegen anzukämpfen, um es zu ändern. Damit ist keine passive Resignation gemeint. Duales Bewusstsein ist sehr wach, sehr präsent; aber es ist eine Präsenz, die das Leben bewusst wahrnehmen kann, wie es ist, ohne das Bedürfnis, es zurechtzubiegen.

All diese Komponenten – die Beharrlichkeit, das Zur-Ruhe-Kommen-Lassen von Körper und Geist in der Stille, das klare Sehen unserer Glaubenssätze, die bewusste Wahrnehmung unseres emotionalen Unfriedens, das Einfach-nur-im-Augenblick-Sein – sind Bestandteile des Wandlungsprozesses, der es uns erlaubt, uns auf unser Leben so einzulassen und es so wertzuschätzen, wie es ist. Wenn diese Fähigkeit zunimmt, können wir die tiefe Verbundenheit erleben, die das Wesen unseres Daseins ausmacht. Aus diesem Grunde üben wir: Wir wollen die Wahrheit dessen kennen lernen, wer wir wirklich sind. Doch reicht es nicht aus, allein den Wunsch zu haben, um diese Wahrheit und tiefe Verbundenheit erfahren zu können. Wir müssen mit dem grundlegenden Prozess des Sitzens arbeiten und ihn verstehen.
Wie kann uns das Wissen um diese Komponenten beim Sitzen helfen? Wenn wir uns darin geschult haben, die grundlegendste Frage zu stellen - >Was geht gerade vor?< - werden wir gewöhnlich feststellen, das wir abgeschweift sind, uns in Fantasien, oder ins Pläneschmieden verstrickt haben, oder in irgendeiner Art emotionalen Unfrieden gefangen sind. Dann können wir die zweite grundlegende Frage stellen: >Worin besteht das Üben in dieser Situation?<.
Wenn wir wissen, dass es fünf Dinge gibt, die wir tun können – beharrlich zu sein, zur Ruhe kommen, unsere Überzeugungen klären, die Gefühle bewusst wahrnehmen und einfach sein - , wird uns deutlicher, wie wir vorgehen müssen. Das ist kein präzises Rezept. Wir sitzen nicht da und analysieren, wie wir vorzugehen haben. Das notwendige Bemühen ist subtiler und steht der Kunst näher, als der Wissenschaft. Gleichwohl erfordert die Kunst des Sitzens diese Art von Verständnis, die uns erkennen lässt, wie wir unsere Bemühungen lenken müssen. Wenn wir beispielsweise einen Tiefpunkt haben und uns unmotiviert, oder ausgedörrt fühlen, bleiben wir einfach dabei und sind beharrlich. Wenn unsere Gedanken umherjagen und wir das vertraute Gefühl der Unruhe im Körper spüren, denken wir daran, dem Körper-Geist zu erlauben zur Ruhe zu kommen. Wenn wir emotionalen Unfrieden erleben, schauen wir uns unsere nicht benannten Glaubenssätze an, sehen sie klar und deutlich, ohne uns selbst zu beurteilen, und verweilen anschließend in der physischen Wahrnehmung des Unbehagens. Und wenn wir einfach sitzen, kennen wir die subtile und sanfte Anstrengung, die notwendig ist, um im Augenblick zu bleiben.
Den Wandlungsprozess nur auf der intellektuellen Ebene zu kennen, ohne die Arbeit zu leisten, ist keine Hilfe. Die Arbeit hingegen, ohne dieses Vorverständnisses zu leisten, macht sie für uns viel schwieriger. Das Verständnis dessen, was wir tun, wird in der Zen-Praxis oft unterbetont. Doch für einen Geist, welcher es vorzieht, sich auf mehr als nur der Grundlage des Glaubens zu betätigen, ist es nicht nur nützlich, sondern unerlässlich, dieses Wissen um die Meditation als Wandlungsprozess zu besitzen.

Montag, 13. Juli 2009

Wonach wir alle suchen

Ein Zenschüler erschien zur Unterredung beim Meister. Sobald er sich gesetzt hatte, sprudelte er hervor: „Mit mir stimmt etwas ganz und gar nicht!“. Der Meister schaute ihn an und fragte: „Was ist es denn?“. Nachdem der Schüler einen Augenblick lang gezögert hatte, erwiderte er: „Ich glaube, dass ich ein Hund bin.“ Daraufhin erkundigte sich der Meister: „Seit wann glauben Sie das?“. Der Schüler erwiderte: „Seit meiner Welpenzeit.“.
Was Hat diese Geschichte mit spiritueller Praxis zu tun? Alles! Sie bringt das menschliche Grundproblem auf den Punkt, Wenn Sie das nächste Mal im Drama einer starken emotionalen Reaktion stecken und das Opfer von eingefahrenen Gedanken sind, die Sie zutiefst für wahr halten, fragen Sie sich, seit wann Sie sie für wahr halten. Nehmen Sie besonders jene Gedanken zur Kenntnis, denen Sie am meisten Glauben schenken: „Das Leben ist furchtbar schwer.“, „Für mich wird nie jemand da sein.“, „Ich bin wertlos.“, „Es ist aussichtslos.“. Seit wann glauben Sie das? Seit Ihrer Welpenzeit!
Diese tief sitzenden Überzeugungen sind an der Oberfläche unseres Geistes möglicherweise nicht sichtbar. Wir sind uns ihrer oft nicht einmal bewusst. Doch wir klammern uns an sie, weil sie sich bis in unsere Zellen – unser zelluläres Gedächtnis – eingenistet haben. Der Stempel, den sie unserem Leben aufdrücken, ist unübersehbar. Wir lassen uns auf endlose Abwehrstrategien ein, um den Schmerz zu vermeiden, diese Überzeugungen und Identifikationen unmittelbar zu erleben. Diese gewohnheitsmäßigen Bewältigungsstrategien sind unser Versuch, uns gegen das ängstliche Beben der Unsicherheit ab zu schirmen und für ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Vertrautheit zu sorgen. Dazu kann gehören, dass wir nach Leistung streben, ein Helfer werden, versuchen unsere Welt zu kontrollieren, oder uns in eine sichere Umgebung zurück ziehen. Aber geben uns diese Strategien je ein Gefühl von authentischer Befriedigung? Nein. All zu oft halten sie uns in der Unzufriedenheit gefangen, so, dass wir nicht wissen, wohin wir uns noch wenden sollen. Ich nenne dieses Feststecken „das Ersatzleben“.
Wenn wir glücklich genug sind, danach zu streben, uns von unserem künstlichen, oder Ersatzleben zu befreien, beginnen wir vielleicht unsere grundlegendsten Annahmen infrage zu stellen, darunter auch unsere Art zu leben. Ein solches Infragestellen kann schmerzhaft sein, aber es ist die Voraussetzung für ein authentischeres Leben. Die eine Frage mit der wir das Problem endgültig auf den Punkt bringen, lautet: „Worum geht es in meinem Leben wirklich?“. Unsere Ehrlichkeit bei der Beantwortung der Frage wird darüber entscheiden, wie klar uns das menschliche Grunddilemma wird: dass wir vom Bewusstsein unseres eigenen wahren Wesens abgeschnitten sind.
Wie viele Stunden am Tag sind Sie beispielsweise achtsam. Oder sich einfach dessen bewusst, was das Leben Ihnen präsentiert, statt sich in Wachträumen zu verlieren, oder darin sich mit dem zu identifizieren, was sie tun, beinahe so, als würde es Sie gar nicht geben? Verbringen Sie den größten Ihrer Zeit damit, sich blind von einer Form der Behaglichkeit zur nächsten, von einem Tagtraum, oder von einer Fantasie zur nächsten, von einem sicheren Ort zum nächsten zu bewegen, um das ängstliche Beben des Unbehagens, oder der Unsicherheit zu vermeiden? Wie viel Energie verwenden Sie darauf, ein spezielles Selbstbild zu festigen, oder Anderen zu gefallen, damit Sie Anerkennung ernten, statt Ihre Energie darauf zu verwenden, ein authentisches Leben zu führen?
Ist Ihnen, noch konkreter gesprochen, klar, mit welchen Methoden Sie es vermeiden, sich wirklich auf Ihr Leben ein zu lassen? Ist Ihnen klar, mit welchen Strategien, um ein Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit zu gewährleisten und die Ängste – vor Ablehnung, Verlust, Unsicherheit, oder Versagen – zu umgehen, die unter der Oberfläche Ihrer Gedanken und Handlungen schlummern?
Wollen Sie beispielsweise ein Gefühl der Ordnung und Kontrolle aufrechterhalten, um der Angst vor dem Chaos aus dem Wege zu gehen, davor, dass die Dinge zusammenbrechen? Wollen Sie Akzeptanz und Anerkennung bekommen, um nicht die Angst vor Zurückweisung und Ablehnung zu spüren? Wie vermeiden Sie die Angst ein Versager zu sein? Indem Sie versuchen zu glänzen und Erfolg zu haben? Suchen Sie die Geschäftigkeit in Abenteuern, oder Vergnügungen, um die tiefen Löcher der Sehnsucht und Einsamkeit zu umgehen? Alle diese Strategien haben eins gemein: sie halten uns in einem künstlichen Dasein, oder Ersatzleben fest.
Niemand ist frei davon. Wir alle verfolgen bestimmte Strategien, um nicht die Ängste spüren zu müssen, die unser Leben stillschweigend regieren, Selbst, wenn wir alles über diese Ängste wissen, wollen wir für gewöhnlich nichts mit ihnen zu tun haben. Vielleicht klingt das pessimistisch und entmutigend, aber das muss es nicht sein. Nur wenn uns klar wird, in welchem Ausmaß wir schlafen – wie sehr wir von unserer Eitelkeit unserer Ziele, der Kleinheit unserer Anhaftungen und dem dringlichen Wunsch getrieben werden, unsere Ängste zu vermeiden - , können wir vom Schlaf, unserem Ersatzdasein, erwachen.
Wenn wir erkenne, dass wir schlafen, meinen wir vielleicht es bedürfe übermenschlicher Anstrengungen unsererseits, um auf zu wachen. Wir halten vielleicht nach immer neuen Techniken, oder Weisheiten Ausschau – aber weder das Eine, noch das Andere wird uns die Lösung bescheren, die wir suchen, besonders wenn wir der Versuchung erliegen, uns bessern, oder ändern zu wollen. Bei einem echten spirituellen Weg geht es niemals darum uns zu bessern, weil an uns nichts falsch ist. Es geht darum wach zu werden für das, was wir wirklich sind, für die unermessliche Größe unseres wahren Wesens, das selbst jene Teile von uns einschließt, die wir „böse“, oder „schlecht“ nennen.

Die Quintessenz des Übungswegs im Alltag besteht darin, Bewusstheit zu entwickeln. Dieser Prozess Beinhaltet zwei grundlegende Aspekte. Der Erste ist das Klären des mentalen Geschehens. Der Zweite ist das bewusste Wahrnehmen – die physische Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks bewusst zu erfahren.
Die Übung, das mentale Geschehen zu klären, beinhaltet, dass wir unser Ersatzleben durchschauen. Das bedeutet, dass wir unseren tief verwurzelten Gedanken und grundlegendsten Selbstbildern, oder Identitäten auf die Spur kommen. Es geht darum zu sehen, dass diese Überzeugungen und Identitäten sich so verfestigt haben – als wäre es immer so und nie anders gewesen -, dass wir sie als Wahrheit akzeptieren. Wir müssen auch begreifen, wie unsere Verhaltensstrategien, die immer aus zentralen Glaubenssätzen entstehen, welche auf Angst beruhen, so eingeschliffen sind, dass sie ebenfalls als das erscheinen, was sie wirklich sind.
Sobald wir diese Gedanken und Strategien deutlich sehen, müssen wir uns auch mit dem emotionalen Schmerz auseinander setzen, der sie ursprünglich entstehen ließ – dem Schmerz, der in unserem Zellgedächtnis verankert ist. Das geschieht durch bewusstes Wahrnehmen. Indem wir uns den physischen Empfindungen im gegenwärtigen Augenblick bewusst machen, kann die Verwandlung unseres Ersatzdaseins in ein authentischeres Leben beginnen. Paradoxerweise geschieht diese Wandlung nur, wenn wir aufhören, uns selbst ändern zu wollen. Tatsächlich ist der Versuch der Veränderung oft das Hauptproblem. Also lassen wir uns auf den Prozess des bewussten Wahrnehmens nicht ein, um etwas zu ändern, sondern um die Welt des Denkens zu verlassen und uns mit der Wirklichkeit dessen zu verbinden, was ist. Was geschieht eigentlich, wenn wir uns in diesen Prozess hineinbegeben?
Die bewusste Wahrnehmung verändert unser Leben, denn sie macht unsere scheinbar fest gefügten, zentralen Glaubenssätze transparent. Wenn wir uns mit der physischen Wirklichkeit des Augenblicks verbinden, erkennen wir mit Hilfe des bewussten Wahrnehmens und Erfahrens, dass das vermeintlich substantielle Selbst in Wirklichkeit aus einem Komplex von tief sitzenden Überzeugungen, gewohnheitsmäßigen Strategien, alten Erinnerungen und manchmal unangenehmen Empfindungen besteht. Es ist, als ob all unsere Gedanken, Urteile, Emotionen und Identitäten separate Haufen wären, die in einer festen Welt, die wir >Ich< nennen, zusammengefügt worden sind. Wenn wir den gegenwärtigen Augenblick ohne Vorstellungen betreten, können wir bewusst erfahren, dass dieses vermeintlich substantielle Selbst nicht das ist, was es zu sein scheint. Sobald wir aufhören, uns mit dem engen >Ich<-Gefühl zu identifizieren, beginnen wir, uns mit dem größeren Raum des Bewusstseins selbst zu identifizieren.
Dann können wir das authentische Dasein erfahren, nach dem wir alle intuitiv suchen und ohne, dass wir nur Unzufriedenheit erleben. Dieses authentische Sein kann nicht benannt werden – es ist kein Objekt. Und dennoch ist es wirklicher als alles Andere. Es ist das, was wir eigentlich sind. Es ist nichts, wonach wir suchen können, denn es ist bereits da. Es wird uns immer entgehen, wenn wir versuchen, es zu finden. Aber wenn wir den Übungsweg beschreiten und versuchen bei dem zu bleiben, was das Leben uns bringt, kommt dieses wahre Sein zum Vorschein, und es wird sich allmählich, Stück für Stück, Jahr für Jahr, enthüllen.
Das Problem ist, dass wir oft nicht bereit sind, uns auf das ein zu lassen, was das Leben uns präsentiert. Wenn wir auf dem langen Weg des Erwachens tiefer in uns selbst graben und die falschen Anteile Schicht für Schicht aufdecken, wollen wir oft nicht die Mühe auf uns nehmen, zu üben. Manchmal kann dieses fehlende Bemühen Ausdruck eines schlichten Wunsches nach Bequemlichkeit sein. Bisweilen können wir einfach nicht tiefer gehen. Es gibt nur ein bestimmtes Ausmaß dessen, was wir aufnehmen können, bevor wir das Bedürfnis bekommen, uns ab zu wenden. Daran ist nichts verkehrt. Es ist sogar vollkommen nachvollziehbar, wenn wir begreifen, dass wir auf dem Übungsweg nichts anderes tun, als die Vorstellung des Selbst zu demontieren. Diese Demontage, bei der das Selbst zunehmend an Substanz verliert, muss sich langsam vollziehen, damit die wirkliche Wandlung stattfinden kann. Wenn wir zu viel in zu kurzer Zeit in uns aufnehmen, wie es Menschen zuweilen auf Drogentrips, oder bei plötzlichen spirituellen Öffnungen widerfährt, wird es schwierig, die daraus folgenden Einsichten stabil in unser Sein zu integrieren. Das Verständnis, dass wir zu einer gegebenen Zeit nur bis zu einer bestimmten Tiefe in die Wahrheit vordringen können, hilft uns, nicht gleich der Versuchung einer negativen Selbstbeurteilung zu erliegen, wenn wir feststellen, wie wir uns dem Üben widersetzen.
Ein Freund erzählte mir, dass er Ende der 60er Jahre einmal Suzuki Roshi aufsuchte. Er fühlte sich entmutigt, weil er nicht imstande war, konsequent zu üben. Er schien ständig zwischen Bemühen und Widerstand zu schwanken und hatte den Eindruck, dass er bei seinem Üben etwas grundlegend falsch machte. Suzuki Roshi erklärte ihm, dass diese Art Schwanken ein universelles Problem beim Üben sei. Immer wieder unternehmen wir Anläufe und >versagen<. Dann lernen wir an irgendeinem Punkt, tiefer zu gehen.
Die spirituelle Praxis folgt nicht einem geradlinigen Weg zu einem festgelegten Ziel. Sie ist fast immer eine Mischung aus abwehren und annehmen, aus Verwirrung und Klarheit, aus Entmutigung und Motivation, aus Versagensgefühlen und einem tieferen Durchdringen der Dinge. Unsere tief gehegten Glaubenssätze zu durchschauen, das Gefühl eines substanziellen Selbst zu demontieren, uns mit unseren schlimmsten Ängsten zu konfrontieren, uns dem Unbekannten zu öffnen – wie können wir auch nur ansatzweise glauben, dass es sich dabei nicht um einen allmählichen und langwierigen Prozess mit vielen Höhen und Tiefen handelt? Dies zu verstehen heißt, dass wir die idealisierten Bilder, die wir davon entwerfen, wie wir sein sollten, durchschauen und Mitgefühl für uns selbst entwickeln, während wir den Weg des Erwachens gehen.
Sobald wir dieses Mitgefühl entwickelt haben, werden wir uns weniger als >verkehrt< beurteilen, wenn wir uns dem Üben widersetzen. Stattdessen wächst unsere Bereitwilligkeit, den Widerstand schlicht da sein zu lassen. Sich einfach auf die Höhen und Tiefen des Lebens ein zu lassen und weniger zu urteilen, ist ein wesentlicher Schritt hin zu einer reifen Übungspraxis.
Einer von Suzukis Dharma-Nachfolgern, Kwong Roshi, der 15 Jahre lang mein Lehrer in traditionellem Zen war betonte oft, wie wichtig es sei, >zu lernen, auf eigenen Beinen zu stehen<. Dieser Rat erinnert mich an die letzten Worte Buddhas, der sagte, wir müssten lernen, >uns selbst ein Licht zu sein<. Vielleicht gibt es nichts Wichtigeres auf dem Übungsweg, als diesen Rat richtig zu verstehen. Doch er wird so leicht als Klischee betrachtet, oder nur oberflächlich akzeptiert, ohne, dass der Versuch unternommen wird, ihn in die Praxis um zu setzen.
Wir können nur verstehen, was es bedeutet, uns selbst ein Licht zu sein, wenn wir unsere eigene Lampe finden, und das bedeutet, dass wir uns auf den langen Prozess einlassen, immer tiefer in unser Sein ein zu tauchen. Es bedeutet, dass wir die in unserem Geist und Körper verankerten Konditionierungen Schicht um Schicht aufdecken und durchschauen. Erst, wenn wir uns über das Ausmaß und die Macht unserer tief sitzenden Überzeugungen und Urteile im Klaren sind, können wir erfahren, was es bedeutet auf eigenen Beinen zu stehen und uns selbst ein Licht zu sein. Nur wenn wir imstande sind, die schmerzhafte Demontage des substantiellen Selbstgefühls aus zu halten, können wir das Herz wecken, welches geweckt werden will. Je mehr wir üben, desto tiefer wird unser Verständnis.
Auf jeder Stufe erhalten wir eine andere Antwort auf die Frage: „Worum geht es wirklich in meinem Leben?“. Dennoch müssen wir immer wieder diese Frage stellen, damit wir nicht den Sinn und Zweck des Übens aus den Augen verlieren. Es spielt keine Rolle, dass sich die Antwort lange Zeit ständig ändert, oder, dass wir etwas für die Antwort halten, obwohl es nur der Wunsch des Ego ist, ein Dasein ohne Probleme zu führen. Selbst wenn wir die meiste Zeit über nicht wissen, worum es in unserem Leben wirklich geht, werden wir dennoch von unserem Herzen vorwärts getrieben, welches von Natur aus erwachen will. Zu wissen, dass wir nicht wissen, und dennoch weiter zu üben, ist die Weise, wie wir lernen tiefer zu gehen.
Solange wir das wirkliche Leben nicht finden, das wir alle suchen, werden wir weiter unzufrieden sein. Diese Wirklichkeit kann nicht mit Worten definiert werden, dennoch ist sie authentischer als alles, worüber wir sprechen können. Das Einzige, was man sagen kann, ist, das sie ist, wer wir wirklich sind. Und heraus zu finden, wer wir wirklich sind, erfordert nicht, dass wir eine Antwort suchen; viel mehr werden wir dazu aufgerufen, immer mehr die Falschheit unseres Ersatzlebens auf zu decken, zu dem unsere Urteile, Identitäten und tief gehegten Glaubenssätze zählen. Der Zenmeister Seng Ts´an sagte dies deutlich in seinem berühmten Satz: „Suche nicht nach der Wahrheit, höre nur auf, an Meinungen fest zu halten.“. Indem wir an keinen Meinungen mehr festhalten – was auch bedeutet, nicht mehr an den zentralen Glaubenssätzen fest zu halten, die unsere Identität als substanzielles, separates Selbst zu definieren – lernen wir auch, was es heißt uns selbst ein Licht zu sein.
Von entscheidender Bedeutung ist, dass wir nicht nach unserem wahren Wesen, oder überhaupt einem besonderen Geisteszustand suchen müssen. Jeder Punkt an dem wir uns aufhalten, jeder Geisteszustand, in dem wir uns befinden, eignet sich als Schwerpunkt der Aufmerksamkeit für unser Üben. Jeglicher Unfrieden, den wir spüren – Unbehagen, Besorgnis, oder emotionale Verwirrung – ist der Weg selbst, die Chance, zu einem authentischeren Dasein zu erwachen. Unsere Schwierigkeiten sind immer unsere besten Lehrmeister, aber nur, wenn wir wissen, wie man aus ihnen lernt. Unseren Geist klar zu sehen und uns selbst im gegenwärtigen Augenblick bewusst wahr zu nehmen, ist die Methode, wie wir die Tür zu einem authentischeren Leben aufstoßen. In jedem beliebigen Augenblick können Sie sich fragen, ob Ihnen klar ist, an welchen Meinungen Sie festhalten. Was geschieht mit Ihrem Körper, wenn Sie an diesen Meinungen festhalten? Was glauben Sie genau jetzt? Was nehmen Sie körperlich genau jetzt wahr? Wir müssen nichts weiter tun, als bewusst zu sein.
Das authentische Leben wurzelt in einer unerschütterlichen Sicherheit, die sich entwickelt, wenn wir begreifen, wer wir wirklich sind. Diese Sicherheit gründet nicht auf einem Selbstbild, oder sozialen Gegebenheiten, sondern auf einem Gefühl der Stärke, Präsenz und Verbundenheit, welches in einem zunehmenden Bewusstsein von der unermesslichen Größe unseres wahren Wesens verankert ist.